Der Bundesminister für Arbeit, Martin Kocher, hat für 2022 eine Reform des Arbeitslosengeldes angekündigt. Obwohl die genaue Ausgestaltung noch unbekannt ist, sind bereits geplante Eckpunkte bekannt. So spricht er sich für ein mit der Zeit sinkendes (= degressives) Arbeitslosengeld und gegen eine Erhöhung der Nettoersatzrate aus. Außerdem setzt er immer wieder wenig beachtete, aber durchaus einschneidende Schritte im Arbeitsrecht. Eine kritische Analyse.

Das degressive Arbeitslosengeld

Bereits seit letztem Jahr plant der österreichische Arbeitsminister Martin Kocher eine Neugestaltung des Arbeitslosengeldes. Was das konkret bedeutet, bleibt weiterhin unbekannt. Bestimmte Eckpunkte scheinen jedoch festzustehen, weil er sie wie im Mantra wiederholt: So spricht er sich pauschal gegen eine Erhöhung der Nettoersatzrate (der Grundbetrag des Arbeitslosengeldes liegt momentan bei 55 % des früheren Nettoeinkommens) und für schrittweise Kürzungen bei Langzeitarbeitslosen aus.

Kritik kommt dazu unter anderem von Caritas, Armutskonferenz und ÖGB. Im Vorfeld der parlamentarischen Enquete zum Arbeitslosengeld am 7. März 2022 forderten sie die Erhöhung des Arbeitslosengeldes. Sie rechnen vor, dass 90 % der Arbeitslosen weniger als 40 Euro am Tag erhalten und damit unter der Armutsgrenze liegen. Für arbeitslose Frauen ist die Situation noch prekärer: mehr als die Hälfte erhält weniger als 27 Euro pro Tag. Auch Berechnungen der Arbeiterkammer Oberösterreich zu den Auswirkungen einer Erhöhung der Nettoersatzrate sprechen eine deutliche Sprache: Man würde 40.000 Menschen unmittelbar aus der Armutsgefährdung holen, davon 6.500 Kinder und Jugendliche. Dennoch bleibt der Arbeitsminister bei seinem kategorischen Nein.

Doch auch sein zweiter Eckpunkt, das degressive Arbeitslosengeld, sorgt für Kritik. Nicht nur seitens der genannten Organisationen und Interessenvertretungen, sondern auch unter Ökonomen. So verweist unter anderem auch die führende Ökonomin Andrea Weber (Professorin an der Central European University) auf eine schwedische Studie, die die Auswirkungen von steigendem und sinkendem Arbeitslosengeld erforschte. Entgegen der oft vertretenen Erzählung kommt die Studie zum Ergebnis, dass Langzeitarbeitslose nicht eher einen Job finden, weil man ihnen das Geld streicht. Auf der anderen Seite bleiben Menschen, die erst kürzlich ihren Job verloren haben, durch ein hohes Arbeitslosengeld am Anfang des Bezugs länger ohne Beschäftigung. Im Ergebnis sollte das Arbeitslosengeld deswegen mit der Zeit steigen und nicht sinken.

Auch Ausführungen der Ökonomen Patrick Mokre und Franziska Foissner stützen diese Annahme: so zeige gerade die Sozialforschung in regelmäßigen Abständen den unmittelbaren Zusammenhang zwischen niedrigen Sozialleistungen und Armutsgefährdung. Und aus keynesianischer Sicht sei offensichtlich, dass eine Kürzung von Sozialleistungen zu einer Reduktion des Konsums und somit zu einem Sinken der wirtschaftlichen Nachfrage und damit in einem Teufelskreis zu weiterer Arbeitslosigkeit führe.

Die Forderung nach einem degressiven Modell ist daher nicht von wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern viel mehr von einem gewissen Menschenbild getrieben: es ist die Fehlvorstellung, dass Langzeitarbeitslose prinzipiell nicht auf der Suche nach Arbeit wären und deswegen Sanktionen verdienen würden. Dass die Forderung nach derartigen Kürzungen just letztes Jahr während der Pandemie und damals steigenden Arbeitslosenzahlen erneuert wurde, scheint in diesem Zusammenhang besonders zynisch.

Die Enthaltung Österreichs zur EU-Mindestlohnrichtlinie

Bemerkenswert ist auch, was sich fast unbemerkt von der österreichischen Medienlandschaft im Rat der Europäischen Union (dem Treffen der Fachminister auf europäischer Ebene) Anfang Dezember ereignete: Die zuständigen Arbeitsminister der Mitgliedsstaaten berieten sich am 6. Dezember über einen Vorschlag der EU-Kommission zur Förderung von Mindestlöhnen in der EU. Während sich eine Mehrheit für diesen Vorschlag aussprach, enthielt sich der österreichische Arbeitsminister Martin Kocher seiner Stimme. Er hatte bereits im Vorfeld immer wieder medial seine Bedenken dazu geäußert und auf rechtliche Problemstellungen im Zusammenhang mit dem österreichischen Kollektivvertragssystem verwiesen. Welches Problem er konkret erblickte, bleibt jedoch im Verborgenen. Die Richtlinie selbst hat nämlich auf Österreich aufgrund seiner hohen Abdeckung durch Kollektivverträge und den damit etablierten branchenweiten Mindestlöhnen keine Auswirkungen. Dafür jedoch auf viele andere Mitgliedsstaaten: so geht die Kommission davon aus, dass von der Mindestlohnrichtlinie zwischen 10 und 20 Millionen Arbeitnehmer in der EU profitieren würden.

Der slowenische Arbeitsminister Janez Cigler Kralj äußerte sich deswegen in der offiziellen Stellungnahme des Rates übrigens auch so: „Arbeit muss sich lohnen. Wir können nicht hinnehmen, dass Menschen, die ihre gesamte Energie in ihre Arbeit investieren, dennoch in Armut leben und keinen angemessenen Lebensstandard erreichen können. Dieser Rechtsakt bedeutet einen großen Schritt in die richtige Richtung auf dem Weg zu diesem Ziel.“

Zusätzlich ist diese Maßnahme auch gleichsam ein wichtiger Schritt zur Beseitigung der Lohnkluft zwischen Ost und West in der EU, der den Druck auf den österreichischen Arbeitsmarkt und die Löhne reduziert. Dass sich der österreichische Arbeitsminister in dieser Frage nicht durchsetzen konnte und überstimmt wurde, ist daher aus vielerlei Hinsicht sicher kein Schaden.

Das Austrocknen des Insolvenz-Entgelt-Fonds

Das gleiche Bild zeichnet die von ihm per Verordnung erlassene Halbierung der Beiträge zum Insolvenz-Entgeltfonds mit Jahreswechsel. Der Insolvenz-Entgeltfonds springt – vereinfacht gesagt – ein, wenn Unternehmen zusperren. Er sorgt dafür, dass auch im Fall der Insolvenz noch offene Löhne an ArbeitnehmerInnen ausbezahlt werden und ist damit ein zentraler Schutzschirm der arbeitenden Bevölkerung. Argumentiert wurde dieser Schritt damit, dass der Fonds momentan gut gedeckt sei und die Lohnnebenkosten damit um 0,1 % gesenkt werden könnte. Bei dieser Argumentation muss man redlicherweise zugestehen, dass der Fonds momentan tatsächlich Reserven hat. Reserven, die sich durch diese Kürzung jedoch nun laut Prognosen bis 2024 mehr als halbieren werden.

Insgesamt bleibt jedoch vor allem das Timing für die Halbierung der einzigen Einnahmequelle dieser Schutzeinrichtung fragwürdig: Warum gerade in Zeiten der Pandemie und großer Unsicherheit am österreichischen Arbeitsmarkt die Insolvenzsicherung für eine minimale Lohnnebenkostensenkung beschnitten wird, wirft viele Fragen auf. Es bleibt daher der schale Beigeschmack, dass es sich hier mehr um ein Geschenk an Unternehmen auf Kosten der ArbeitnehmerInnen handelt, als um eine sinnvolle politische Maßnahme.

Die Spaltung der Gesellschaft

Insgesamt ergibt dies ein durchwachsenes Bild. Eine starke Demokratie zeichnet sich durch Partizipation und Teilhabe größtmöglicher Teile der Bevölkerung aus. Je besser abgesichert Menschen sind, desto eher kommt es zur Beteiligung. Studien wie Marienthal zeigen, dass der Staat insbesondere bei Langzeitarbeitslosen gefordert ist, um nicht Bevölkerungsteile zu „verlieren“. Ein Programm zur Schaffung von Arbeitsplätzen für Langzeitarbeitslose scheint daher geradezu indiziert.

Es bleibt daher zu hoffen, dass das geplante degressive Arbeitslosengeld-Modell nie kommen wird und er wie in seiner Gegenhaltung zu europäischen Mindestlöhnen erneut überstimmt wird: diesmal durch ein Zusammenwirken von kritischer Öffentlichkeit und dem österreichischen Parlament. Schließlich scheint es nämlich immer das bessere Konzept Arbeit zu finanzieren, und nicht mit einem degressiven Leistungsmodell Arbeitslosigkeit.