Prekarisierung durch atypische und neue Beschäftigungsformen

Das Schicksal von Don Lane macht betroffen. Der 53-jährige Brite starb am 4. Jänner 2018 an den Folgen seines Diabetes. Nicht, weil er die Krankheit nicht ernst nahm, sondern weil er sich keinen Tag für seine Behandlungen freinehmen konnte. [1]

Don Lane war Paketzusteller für den Zustelldienst DPD. Er war tagtäglich im Einsatz, musste sich an persönliche Weisungen halten und arbeitete nur für DPD. Als Selbständiger. Das war auch der Grund, warum er keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall hatte und ihm eine Strafe in Höhe von 150 Pfund drohte, sollte er keine Vertretung für seinen krankheitsbedingten Ausfall namhaft machen können. Eine Strafe, die seiner Witwe zufolge, auch schon einmal ausgesprochen wurde – obwohl er den abwesenheitsverursachenden Arzttermin Monate zuvor angekündigt hatte und bereits dreimal im Dienst kollabiert war. DPD wies diese Vorwürfe zurück, reagierte jedoch mit der Ankündigung eines Modells in dem Beschäftigte selbst wählen können sollten, ob sie ArbeitnehmerInnen oder Selbständige sind. [2]

Wir springen dreieinhalb Jahre weiter in der Zeit, in den Herbst 2022: Der 49-jährige DPD-Kurier Warren Norton wird tot in einem Paketwagen aufgefunden. [3] Er hatte im Vorfeld des Black-Friday-Wochenendes wiederholt 14-Stunden-Dienste verrichtet – als Selbständiger. Auch hier stehen Anschuldigungen im Raum, wonach die KurierInnen im Unternehmen während der besonders stressigen Tage mehr arbeiten müssen. DPD weist auch diese Vorwürfe zurück.

1. Die Wienerberger Ziegelarbeiter

Das weckt historische Erinnerungen. Im Jahr 1888 schlich sich Victor Adler in die Wienerberger Ziegelfabrik ein. Er wollte über die Arbeitsbedingungen aus erster Hand berichten. Ein Ziegelarbeiter musste ihn dafür in das streng abgeriegelte Werkgelände einschleusen. Aus seinen Eindrücken entstand seine wohl bekannteste Klageschrift – eine Sozialreportage mit dem harmlos anmutenden Titel „Die Lage der Ziegelarbeiter“. Seine Schilderungen waren jedoch alles andere als harmlos: Während auf der einen Seite die Aktionäre fette Gewinne einstreiften, schufteten auf der anderen Seite die ArbeiterInnen zu menschenunwürdigen Bedingungen.

Oder mit seinen Worten:

Die Wienerberger Ziegelfabrik- und Baugesellschaft zahlt ihren Aktionären recht fette Dividenden. Ihre Aktien, die mit 120 Gulden eingezahlt sind, haben im letzten Jahre nicht weniger als 14 Gulden, das sind 11,7 Prozent, getragen. Bei 35 000 Aktien macht das die hübsche Summe von 490 000 Gulden, welche da ins Verdienen gebracht wurde. […] Hören wir nun, wie der andere Teil, wie die Arbeiter dieser reichen glänzenden Aktiengesellschaft leben. Nun denn, diese armen Ziegelarbeiter sind die ärmsten Sklaven, welche die Sonne bescheint. Die blutige Ausbeutung dieser elendsten aller Proletarier wird durch das verbrecherische, vom Gesetz ausdrücklich verbotene Trucksystem, die Blechwirtschaft, in unbedingte Abhängigkeit verwandelt. Der Hunger und das Elend, zu dem sie verdammt sind, wird noch entsetzlicher durch die Wohnungen, in welche sie von der Fabrik oder ihren Beamten zwangsweise eingepfercht werden. [4]

Verhältnisse wie diese waren ein Katalysator für das Entstehen der ArbeiterInnenbewegung. [5] Rechte wurden erkämpft, Schutzvorschriften hart erstritten und für lange Zeit ein zuvor nicht dagewesener Wohlstand für breite Massen insbesondere über die Absicherung durch starke öffentliche Strukturen geschaffen. Um nur einige Errungenschaften zu nennen: nahezu lückenlose Abdeckung mit kollektivvertraglichen Mindestlöhnen (98 Prozent aller Arbeitsverhältnisse sind abgedeckt), [6] eine umfassende Sozialversicherung zur Absicherung der großen Lebensrisiken [7] und sozialer Wohnbau, mit dem leistbares Wohnen für große Teile der Bevölkerung ermöglicht wurde. [8]

2. Das neue Prekariat

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2.1       Die Zersetzung des Normalarbeitsverhältnisses

In den letzten Jahrzehnten erleben wir jedoch eine gegenläufige Bewegung. Und nur so sind Schicksale wie die der beiden eingangs geschilderten DPD-Fahrer begreiflich. Bereits 1987 beschrieb Klaus Firlei die Entwicklungen unter dem Titel der versuchten „Flucht aus dem Arbeitsrecht“. [9] Ging es damals noch um die gezielte Umgehung des arbeitsrechtlichen Schutzes durch Wahl eines anderen Vertragstypus, dem sogenannten freien Dienstvertrag oder gar Werkvertrag, so zeichnet sich diese Flucht heute durch eine weitergehende Zersetzung des auf Dauer angelegten Normalarbeitsverhältnisses aus. Diese Zersetzung durch eine Zunahme an Befristungen und atypischen Beschäftigungsformen stellt das Arbeits- und Sozialrecht vor einige Probleme. Die derzeitigen Regelungen gehen nämlich nach wie vor implizit von einer Art prototypischen Beschäftigungsform aus: einer Vollzeitbeschäftigung zwischen zwei Vertragsparteien, die auf Dauer und unbefristet ausgeübt wird. Gewerkschaftliche Organisation in und über den Betrieb hinaus, sozialversicherungsrechtliche Absicherung [10] und AN-Ansprüche werden bei davon abweichenden Vertragsgestaltungen immer wieder getestet und mitunter an ihre Grenzen gebracht.

2.2 Atypische Beschäftigungsverhältnisse [11]

Mit dieser Einführung lassen sich die Formen atypischer Arbeit bereits erahnen: zunehmende Teilzeitarbeit, befristet abgeschlossene Arbeitsverhältnisse und Aufbrechung des zweipersonalen Verhältnisses insbesondere durch Formen der Leiharbeit. Diese Diagnose traf das Europäische Parlament bereits im Jahr 2000. [12]

Derartige Konstruktionen bieten vor allem den „negativen“ Anreiz für ArbeitgeberInnen, das Risiko der Entlohnung unproduktiver Zeiten auf ArbeitnehmerInnen überwälzen und aus dem Kündigungsschutz potenziell resultierende Kosten umgehen zu können. Den ArbeitnehmerInnen wurde gleichzeitig die bessere Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und privaten Tätigkeiten versprochen – ein Versprechen, dem natürlich auch ohne Atypizität der Beschäftigung bereits entsprochen werden hätte können. [13]

Damit aber nicht genug.

2.3 Neue Beschäftigungsformen

Der Einsatz moderner Technologie verändert die Arbeitswelt noch zusätzlich: die Beziehung zwischen ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen, die Arbeitsorganisation und zunehmend sogar beides zugleich. Dies wird oftmals durch Zuhilfenahme technischer Betriebsmittel ermöglicht, weshalb viele dieser Erscheinungen unter dem Titel „neue Beschäftigungsformen“ [14] zusammengefasst werden. Ob ArbeitnehmerInnen-Sharing, Jobsharing, Interim-Management, Gelegenheitsarbeit, IKT(Informations- und Kommunikationstechnologie)-gestützte mobile Arbeit, Arbeit auf der Grundlage von Gutscheinen, kombinierte Teilzeitbeschäftigung, Crowdwork und kollaborative Arbeitsformen: Sie alle dienen dabei dem Zweck, mehr Flexibilität in das Arbeitsverhältnis zu bringen. [15]

Genau diese Flexibilität, obgleich theoretisch geeignet, nutzbringend für beide Vertragsparteien zu sein, begründet jedoch vermehrt Sorge hinsichtlich der damit einhergehenden Arbeitsbedingungen, da damit gleichzeitig oftmals auch die Qualifikation des jeweiligen Vertragsverhältnisses als Arbeitsverhältnis bestritten wird. Durch Arbeiten(lassen) im Graubereich ist nämlich eine eindeutige Zuordnung zum Arbeitsvertrag oft nicht mehr auf den ersten Blick möglich, gleichzeitig arbeiten die Beschäftigten aber auch nur in den seltensten Fällen mit eigener unternehmerischer Struktur und Freiheit sowie tatsächlich wechselnden GeschäftspartnerInnen. Von echter Selbständigkeit kann daher auch keinesfalls geredet werden. Dies mag im ersten Moment trivial klingen, für die beschäftigten Personen hat diese Differenzierung jedoch weitreichende Auswirkungen.

So haben beispielsweise AuftraggeberInnen keine Sozialversicherungsbeiträge für ihre selbständigen AuftragnehmerInnen zu entrichten (die AuftragnehmerInnen müssen sie vielmehr selbst tragen), ArbeitgeberInnen für ihre ArbeitnehmerInnen anteilig jedoch schon. AuftraggeberInnen müssen nicht auf die Einhaltung von AN-Schutzvorschriften achten und Arbeitszeitbeschränkungen einhalten, sie können Kündigungsbedingungen ohne gesetzliche Kündigungsfristen und -termine frei vereinbaren. Für ArbeitnehmerInnen ist eine fälschliche Qualifizierung fernab des Arbeitsverhältnisses daher mit einigen Nachteilen verbunden. Aber auch auf ArbeitgeberInnenseite hat diese Entwicklung negative Auswirkungen. So führt eine falsche Einordnung fernab eines Arbeitsvertrags unweigerlich auch zu einem (gesetzwidrigen) Wettbewerbsvorteil gegenüber jenen ArbeitgeberInnen, die sich an die gesetzlichen Vorschriften halten.

Dies lässt sich mit Nuancierungen für ganz Europa statuieren und zeigt auf, dass die beiden geschilderten tragischen Fälle aus dem britischen Transportsektor nur exemplarisch für Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen in vielen Staaten stehen. Zu einem ähnlichen Befund gelangt man nämlich auch in bestimmten Branchen in Österreich, wie der 24-Stunden-Pflege, bei den gesetzlich von der türkis-blauen Regierung – völlig systemwidrig – sozialversicherungsrechtlich zu Selbständigen gemachten ZeitungsbotInnen [16], in der Transportbranche [17] oder bei EssenszustellerInnen.

2.4 Zwischenergebnis

Wir erleben vermehrt eine „The winner takes it all“-Logik, in der Personen mit Arbeitsverträgen in den Genuss des vollen arbeitsrechtlichen Schutzes gelangen, Personen ohne Arbeitsverträge – mit teils sehr vergleichbaren Aufgaben und Arbeitsbedingungen – jedoch nur sehr eingeschränkten Schutz genießen und sich vielfach nur mehr mit der Grenze der Sittenwidrigkeit (als tiefstmöglicher Grenze nach unten) „absichern“ können.

Dadurch entsteht eine Gruppe von Beschäftigten, die nahezu jeglichen arbeitsrechtlichen Schutzes beraubt ist, die keine Kollektivverträge abschließen kann und die aufgrund ihrer Zwischenrolle als im Kern unselbständig tätige Selbständige nur zaghaft von den gesetzlichen und freiwilligen Interessenvertretungen der ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen vertreten werden. Erste Initiativen des ÖGB sind hierbei positiv hervorzuheben. [18]

Eine der größeren Herausforderungen der nächsten Jahre wird daher die Frage sein, wie man eben jene Personen absichern kann, die zwar formal richtig oder gar nur zum Schein als Selbständige arbeiten, dabei jedoch dieselbe wirtschaftliche Abhängigkeit (im Sinne einer Abhängigkeit vom Entgelt) erleben, die historisch zur Entwicklung des Arbeitsrechts geführt hat.

3. Quo vadis?

3.1 Atypische Beschäftigung

Zur Bekämpfung der Risiken im Zusammenhang mit atypischer Beschäftigung sind bereits einige Schritte gesetzt worden und liegen vielfach weitere Lösungsansätze auf dem Tisch.

  1. Insbesondere Initiativen auf europäischer Ebene ist es zu verdanken, dass der Schutz von Teilzeitbeschäftigten verbessert wurde. So enthält die Teilzeit-Richtlinie 97/81/EG ein umfassendes Diskriminierungsverbot Teilzeitbeschäftigter. [19] Außerdem wird die Förderung des Wechsels von Teilzeit zu Vollzeit und vice versa explizit erwähnt – insbesondere weil die Herabsetzung des Stundenausmaßes und damit einhergehend des Entgelts oftmals die prekäre Situation der ArbeitnehmerInnen begründet. Die RL unterlässt es jedoch, Ansprüche auf Erhöhung oder Reduktion der Arbeitszeit zu etablieren. Eine Maßnahme, mit der die Situation Teilzeitbeschäftigter schlagartig verbessert werden würde, wäre die Etablierung eines Rechtsanspruchs auf Erhöhung der Stundenanzahl, wenn im Betrieb einschlägige Stellen besetzt werden sollen.
  2. Befristete Beschäftigung: Auch befristete Arbeitsverhältnisse bringen ArbeitnehmerInnen immer wieder in prekäre Situationen, da sie mit potenzieller Aussicht auf ein unbefristetes Vertragsverhältnis geneigt sind, ihre Ansprüche wesentlich vorsichtiger geltend zu machen.
  3. Außerdem liegt es in der Natur der Sache, dass eine Befristung ausläuft und dann eine neue Stelle gesucht werden muss, was die wirtschaftliche Situation zusätzlich ungesichert lässt. Insbesondere die Problematik der Kettenbefristungen hat die österreichische Judikatur in diesem Zusammenhang beschäftigt, also wie mit der Aneinanderreihung mehrerer befristeter Arbeitsverträge umzugehen ist. Dabei wurde durch die Rechtsprechung etabliert, dass eine Aneinanderreihung von befristeten Arbeitsverträgen ohne sachliche Rechtfertigung als Umgehung jener gesetzlichen Vorschriften zu werten ist, die Ansprüche erst nach einer gewissen Zeit der Dienstzugehörigkeit entstehen lassen. Bereits die erste Verlängerung bedarf deshalb einer sachlichen Rechtfertigung. [20] Da der österreichisches Gesetzgeber dafür jedoch keinerlei gesetzliche Regelung etabliert hat und sich dabei vollständig auf die Judikatur verlässt, kann durchaus infrage gestellt werden, ob die Republik Österreich die Befristungsrichtlinie 99/70/EG der EU ordnungsgemäß umgesetzt hat. [21]
  4. Arbeitskräfteüberlassung: Das Aufkommen der Arbeitskräfteüberlassung (auch: Leiharbeit, Zeitarbeit) hat ganz eigene Handlungsfelder mit sich gebracht. Es handelt sich dabei um ein Geschäftsmodell, bei dem  ArbeitgeberInnen für kurzfristige Arbeitsspitzen Fremdpersonal von einem Dritten (dem Arbeitskräfteüberlassungsunternehmen) gegen Entgelt zur Verfügung gestellt bekommt. Diese ArbeitnehmerInnen stehen in keinem Vertragsverhältnis zu dem/der neuen ArbeitgeberIn, sondern haben ihren Arbeitsvertrag mit dem Überlassungsunternehmen. Mit dem Arbeitskräfteüberlassungsgesetz [22] wurden durchaus erfolgreich einige der Problemfelder gesetzgeberisch einer Lösung zugeführt: So darf ein Überlasser die überlassenen ArbeitnehmerInnen nach Ende des Vertragsverhältnis nicht durch Vertragsstrafen daran hindern, vom aufnehmenden Betrieb übernommen zu werden. Außerdem muss bei der Entlohnung sowohl der Kollektivvertrag für Arbeitskräfteüberlasser als auch der Kollektivvertrag der jeweiligen Beschäftiger beachtet werden, wobei sich die Entlohnung – vereinfacht gesagt – nach dem besseren Kollektivvertrag richtet. De lege ferenda würde ein Anspruch der überlassenen Arbeitskraft auf Übernahme in den Beschäftigerbetrieb nach einer gewissen Wartefrist die Situation der ArbeitnehmerInnen weiter verbessern.

3.2 Neue Beschäftigungsformen

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Wie bereits eingangs angedeutet, verschärft die Digitalisierung nicht nur einige Handlungsfelder, sondern schafft auch gänzlich neue. Einige davon liegen in der Natur der Sache: Bei Dislozierung des Arbeitsplatzes wird betriebliche Organisation und Mitbestimmung schwieriger, da die Betriebsverfassung von einem physischen Betrieb und analoger Kommunikation im Betrieb ausgeht. [23] Auch das zunehmende Auslagern unternehmerischer Entscheidungen auf datenbasierte Computerprogramme fällt in diese Kategorie, wobei die daran anknüpfenden Fragestellungen deutlich komplexer sind. Hier wird der Gesetzgeber in Zukunft dafür Vorsorge zu treffen haben, dass solche Entscheidungen für Betroffene und Belegschaftsvertretung überprüfbar bleiben. [24] Das Problem der zunehmenden Kontrolle am Arbeitsplatz ist im Arbeitsrecht schon länger Thema, wird aber mit der Zunahme technischer Hilfsmittel nicht kleiner. [25]

Einigermaßen neu ist jedoch das Phänomen, dass durch Zwischenschalten von Online-Plattformen Tätigkeiten, die in der Vergangenheit in Form eines unbefristeten Dienstverhältnisses geleistet wurden, nunmehr in Einzelaufgaben aufgespalten und in Auftragspaketen an einen Pool zumindest formal selbständiger AuftragsnehmerInnen verteilt werden (vulgo Crowdwork). Für die beschäftigte Person kann es dabei durchaus so sein, dass sich an der konkreten Tätigkeit nicht viel verändert hat, jedoch durch die Vertragsgestaltung der gänzliche arbeitsrechtliche Schutz wegfällt. Hier wird es darauf ankommen gesetzlich sicherzustellen, dass es sich bei den Tätigkeiten auch wirklich um selbständige Tätigkeiten handelt. Bei einigen dieser Plattformarbeits-Modelle darf nämlich mit Recht bezweifelt werden, dass die Plattform zur Erfüllung ihrer Leistung tatsächlich mit Selbständigen kontrahiert. So gibt es international bereits mehrere Entscheidungen [26], die vor allem bei PersonenbeförderungsfahrerInnen [27] und EssenszustellerInnen [28] zum Ergebnis gelangten, dass eigentlich ein Arbeitsverhältnis zur Plattform vorliegt. [29]

Besonderes Augenmerk verdient in diesem Zusammenhang der Richtlinien-Vorschlag der Europäischen Kommission zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit [30] vom Dezember 2021. Herzstück dieses Vorschlags ist die gesetzliche Vermutung eines Arbeitsverhältnisses, wenn zumindest zwei von fünf – leichter feststellbaren – Merkmalen bei der Arbeitsorganisation vorliegen. Dabei handelt es sich zum Beispiel um die Frage, ob Plattformbeschäftigte selbst ihre Vergütung bestimmen können oder dies durch die Plattform vorgegeben wird oder ob die Plattform bestimmte Vorgaben zum Erscheinungsbild macht (z. B. Kleidungsvorschriften) oder die Arbeitserbringung organisiert. Sollte die gesetzliche Vermutung für ein Arbeitsverhältnis getriggert werden, haben die ArbeitgeberInnen immer noch die Möglichkeit, diese Vermutung zu widerlegen. Der Vorteil für die ArbeitnehmerInnen ist jedoch der Wegfall der Beweislast, was eine deutliche Verbesserung für die Betroffenen darstellt.

Dieser Vorschlag verdient besonders auch deswegen Beachtung, weil das Konzept der gesetzlichen Vermutung in Österreich auch dafür genützt werden könnte, um andere Formen prekärer Beschäftigung „einzufangen“.

4. Zusammenfassung

Im Schatten des arbeitsrechtlichen Schutzes tut sich eine größer werdende Gruppe hervor, die zwar in völliger wirtschaftlicher Abhängigkeit tätig ist, jedoch mangels Arbeitsvertrags nicht dem Arbeitsrecht unterliegt. Es muss daher auch der Blick auf jene Personen geworfen werden, die seinem Schutzbereich entzogen sind. Die selbständige Paketlieferantin mit 14-Stunden-Tag, die 24-Stunden-Pflegekraft, der selbständige Zeitungszusteller mit täglichem Dienstbeginn um 3 Uhr in der Früh oder die zum Hungerlohn durch den Schnee fahrende Fahrradessenszustellerin: Sie alle verdienen soziale Absicherung im breitesten Sinne; auch dann, wenn eine rechtliche Prüfung ergeben sollte, dass es sich tatsächlich um eine selbständige Tätigkeit handelt. Hierzu gilt es das gesetzliche Instrumentarium zu erweitern, um weiteren negativen Entwicklungen vorzubeugen.

Zusätzlich bleibt es notwendig, die arbeitsrechtlichen Schutzstandards zu erhöhen. Ein paar Vorschläge dafür finden sich in diesem Beitrag. [31] Damit Schicksale wie die von Don Lane und Warren Norton nicht österreichische Realität werden.

Endnoten

  1. The Guardian (2018): DPD courier who was fined for day off to see doctor dies from diabetes; https://www.theguardian.com/business/2018/feb/05/courier-who-was-fined-for-day-off-to-see-doctor-dies-from-diabetes (abgerufen am 4. 12. 2022).
  2. The Guardian (2018): DPD to offer couriers sick pay and abolish fines after driver’s death; https://www.theguardian.com/business/2018/mar/26/dpd-to-offer-couriers-sick-pay-and-abolish-fines-don-lane-death (abgerufen am 4. 12. 2022).
  3. Leicester Mercury (2002): Delivery driver found dead in van after ’14 hour-long shifts’; https://www.leicestermercury.co.uk/news/uk-world-news/delivery-driver-found-dead-van-7863556 (abgerufen am 4. 12. 2022); Daily Mail (2022): DPD courier, 49, who was working seven-day weeks and up to 14 hours at a time ahead of Black Friday is found dead behind the wheel of his van; https://www.dailymail.co.uk/news/article-11464075/A-courier-died-working-seven-days-week-run-Black-Friday.html (abgerufen am 4. 12. 2022).
  4. Adler, Victor (1888): Die Lage der Ziegelarbeiter. In: Gleichheit 51, 11.
  5. Abendroth, Wolfgang (1997): Einführung in die Geschichte der Arbeiterbewegung, 17.
  6. Mendel, Marliese (2022): Von Katzenmusik und Kollektivverträgen; https://www.oegb.at/themen/arbeitsrecht/kollektivvertrag/von-katzenmusik-und-kollektivvertraegen (abgerufen am 3. 12. 22).
  7. Brodil, Wolfgang/Windisch-Graetz, Michaela (2021): Sozialrecht in Grundzügen9, 17.
  8. Weihsmann, Helmut (2002): Das Rote Wien, 96 ff.
  9. Firlei, Klaus (1987): Die Flucht aus dem Arbeitsrecht. In: Das Recht der Arbeit, 271.
  10. Schulze Buschoff, Karin (2004): Neue Selbstständigkeit und wachsender Grenzbereich zwischen selbstständiger und abhängiger Erwerbsarbeit – Europäische Trends vor dem Hintergrund sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Entwicklungen. WZB, 4 f.; Resch, Reinhard (2020): Sozialrecht8, 12 f.
  11. Die Ausführungen dieses und des folgenden Unterkapitels fußen auf den Vorarbeiten von Gruber-Risak, Martin (2019): Atypische und prekäre Beschäftigungsverhältnisse in der EU: Problemlagen und Handlungsoptionen für arbeits- und sozialrechtlichen Schutz. In: Soukup (Hrsg.): Neoliberale Union oder soziales Europa? Ansätze und Hindernisse für eine soziale Neuausrichtung der EU. Sozialpolitik in Diskussion Bd. 20, 72–85.
  12. Europäisches Parlament (2000): Atypical Work in the EU, SOCI 106 EN, 9, 30 f.
  13. Gruber-Risak, Martin/Obrecht, Sascha (2022): Arbeiten im Jahr 2030 – Highway to Hell oder Stairway to Heaven? In: Kaiser, Elisabeth/Schober, Marcus (Hrsg.): Wiener Perspektiven Band 2, 123.
  14. Europäische Kommission (2017): Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen in der Europäischen Union, COM(2017) 797 final, 1.
  15. Eurofound (2015): New forms of employment, 107.
  16. Mit BGBl I 2019/8 wurden Zusteller:innen von Zeitungen und sonstigen Druckwerken im § 5 Abs 1 Z 17 ASVG ex lege aus der Vollversicherung nach dem ASVG ausgeschlossen.
  17. Mit weiteren Schicksalen basierend auf zehn Gesprächen mit Betroffenen in unterschiedlichen Branchen: Bohrn-Mena, Veronika (2019): Die neue ArbeiterInnenklasse.
  18. An dieser Stelle kann jedoch auf die Initiative der Gewerkschaft vida für Einzelpersonenunternehmen unter dem Namen vidaflex hingewiesen werden: https://www.vidaflex.at/ (abgerufen am 4. 12. 2022). 
  19. § 4 RL 97/81/EG ABl L 1998/14, 9.
  20. OGH 9 ObA 2220/96b infas 1997 A 25.
  21. § 5 RL 99/70/EG ABl L 1999/43.
  22. BGBl 1988/196.
  23. Gruber-Risak, Martin/Obrecht, Sascha (2022): Arbeiten im Jahr 2030 – Highway to Hell oder Stairway to Heaven? In: Kaiser, Elisabeth/Schober, Marcus (Hrsg.): Wiener Perspektiven Band 2, 126.
  24. [1] In diese Richtung gehen auch einzelne Bestimmungen eines Verordnungsvorschlags für gewerbliche (!) Plattformnutzer:innen der EU-Kommission in: Europäische Kommission (2018): Vorschlag für eine Verordnung des europäischen Parlaments und des Rates zur Förderung von Fairness und Transparenz für gewerbliche Nutzer von Online-Vermittlungsdiensten, COM(2018) 238 final.
  25. [1] Vgl §§ 96 Abs 1 Z 3, 96a Abs 1, 97 Abs 1 Z 1 ArbVG.
  26. [1] Deutsches BAG 1. 12. 2020, 9 AZR 102/20.
  27. [1] Britischer Supreme Court 12. 2. 2021 (Uber BV v Aslam), UKSC 5.
  28. [1] Spanisches Tribunal Supremo 25. 9. 2020, STS 2924/2020.
  29. [1] Hießl, Christina (2022): Case Law on the Classification of Platform Workers: Cross-European Comparative Analysis and Tentative Conclusions, Comparative Labour Law & Policy Journal 2022 (im Erscheinen – vorab online verfügbar unter https://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=3839603).
  30. [1] Europäische Kommission (2021): Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit, COM(2021) 762 final.
  31. [1] Weitere Vorschläge in: Gruber-Risak, Martin/Obrecht, Sascha (2022): Arbeiten im Jahr 2030 – Highway to Hell oder Stairway to Heaven? In: Kaiser, Elisabetz/Schober, Marcus (Hrsg.): Wiener Perspektiven Band 2, 123.